Franz Lindenmayr / Mensch und Höhle

"Höhlen" im Parco dei Tarocchi und im Werk von Nikki de Saint-Phalle, I


Mit der Gestaltung des Tarotgartens in Garavicchio am Südrand der Toskana erfüllte sich die Künstlerin Nikki de Saint-Phalle einen großen Wunsch. Nach ihrer eigenen Aussage besuchte sie 1955 den Park Guell in Barcelona, der von Antonio Gaudi gestaltet worden war. In ihm kam ihr die Idee, daß sie eines Tages ihren eigenen phantasievollen Garten einmal gestalten werden würde. Tatsächlich geschah das in den Jahren zwischen 1979 und 1996 auf einem Grundstück, das ihren Freunden Narella Caelo und Nicola Caracciolo gehört. Um den Bau zu finanzieren, schuf sie ein Parfum verkaufte Multiples. 22 große Figuren stehen heute auf dem Gelände, die den 22 großen Arkanas aus dem Tarotspiel nachempfunden sind. Sie bestehen aus Stahlbetonkonstruktionen, die außen mit Mosaiken, Spiegeln, Glas und Keramik verkleidet sind. Eine Menge Menschen haben mitgearbeitet, damit dieser Wundergarten entstanden ist. Besonders ihr Lebensgefährte Jean Tinguely war mit seinen seltsamen Maschinenkonstruktionen mit einbezogen, aber etwa auch der bekannte Architekt Mario Botta, der die Eingangsmauer in den Garten gestaltete.

Heute ist dieser Platz ein Anziehungspunkt für viele Menschen, die auch einmal aus dem Alltag heraustreten wollen und die Verspieltheit, Verdrehtheit, ja Verrücktheit, die sich da einen vergänglichen manifesten Ort geschaffen hat, erleben wollen.

Was hat das Nachgestalten der Tarotfiguren mit "Höhlen" zu tun? Wer einen engen Höhlenbegriff hat, der wird mit dieser Frage sicherlich nichts anfangen können. Aber alleine schon mit dem Thema "Körperhöhlen" ist man da mittendrin. Nikki de Saint-Phalle hat sich ja in die Kunstgeschichte mit ihrer Skulptur "Hon" eingeschrieben, als sie nämlich die Besucher einer Ausstellung im Moderna Musset in Stockholm 1965 durch die Vagina einer Riesinnenskulptur in deren Inneres eindringen ließ.

Auch im Tarotgarten gibt es dieses Motiv. Da ist eine Riesendame mit Riesenbrüsten und zwischen ihnen, ein bißchen darunter ist eine türartige Öffnung, fleichfarbenrosa gestrichen und zu, zumindest Anfang Juni 2004, als ich mal da war. Sie fällt kaum mehr auf, das sie die gleiche Farbe wie die Umgebung hat und ein Busch inzwischen immer höher wächst, der den Blick darauf fast verdeckt. Ob es Absicht ist? Die Obszönität des künstlerischen Gedankens so allmählich zum Verschwinden bringen? Scheinbar ganz unschuldig, einfach alles wachsen lassen, und schon ist das Verstörende an dem Kunstwerk ein bißchen wieder weg. Man kann aber heute durch eine andere Pforte in das Innere der Dame, vielleicht sogar noch ein bißchen "anrüchiger", nämlich durch das Loch in ihrem Hinterteil, um nicht gleich "Arschloch" zu schreiben. Innen ist eine verspiegelte Traumwelt, ein Wohnzimmer mit einem verspielten Tischchen und 4 Stühlchen, eine Spiegelküche und sogar ein Traumbett. Die phantastische Innenwelt einer Lebedame. Hier lebte Nikki de Saint Phalle während des Baus der Anlage. Über die Vaginatüre ist übrigens von innen eine Riegelstange mit einem Schloß innen angebracht. Paßt in ihrer Nützlichkeitsallüre irgendwie nicht so in die Traumwelt, aber schließlich darf auch hier die Phantasie nicht bis in den Himmel wachsen. In dem Buch über den Garten heißt es dazu: "THE EMPRESS CARD NO. III - The Empress ist the gread Goddess She is Queen of the sky. Mother. Whore. Emotion. Sacred Magic and Civilization..."

Viele der großen Figuren sind innen hohl und das ist natürlich aus "höhlenkundlicher" Sicht halt von Belang. In einem Spiegeliglu ist innen eine Art Hausaltar, der "temperance - card no. XIII", wo der "persönliche Gott" von Nikki de Saint-Phalle, eben Jean Tinguely, mit einem Foto präsent ist. In einer mächtigen schwarz-weißen Riesendame mit Riesenbrüsten, unten denen man es bei Regen gut aushalten könnte, "justice - card no. VIII), wirkt eine Tinguely-Maschine mit dem Rosttouch und den Kuhschädeln unablässig weiter. Auch der große blaue Riese im Zentrum der Anlage, zu dessen Füßen ein Wasserfall seinen Ursprung hat, "the magician - card no. 1) ist innen hohl. Eine rätselhafte blaue Welt tut sich da auf mit einer Art Sintersäule, Felsbrocken, einer blauen "Göttin", und das alles durchspült vom unaufhaltsam rinnenden Wasser.

Natürlich hat auch der Drache, der vor einer schönen Frau seinen Körper erhebt, etwas mit dem Umkreis der Symbolwelt der Höhlen zu tun, genauso wie die Teufelin, die mir besonders gelungen vorkommt. An den Formenschatz der Höhlen haben mich besonders die vielen Arten von Säulen erinnert, die in ungeheurer Vielfalt zu sehen sind. Und an eine Grundgestalt vieler Höhlen, nämlich daß sie eine labyrinthische Struktur haben, erinnern einfach die beiden Labyrinthe zu Füßen einer exzentrischen Riesenkopfskulptur, dem Hierophanten.

Sich mal wieder richtig verzaubern lassen, das kann an diesem Ort gelingen. Wenn ich mir unsere vergnügungssüchtige Welt mit ihren sauteuren künstlichen Paradiesen anschaue, etwa in Las Vegas mit seinen Phantasiehotels, dann ist im Parco dei Tarocchi ein sehr seltenes gelungenes Beispiel dafür da, voller Ausdruck von leidenschaftlicher Liebe. Kein Wunder, daß da auch die "Höhlen" ins Spiel kommen.


Erste neugierige Blicke von außerhalb des
Geländes auf den "Kunstpark"
 
 
Drache und Teufelin
 
Der Eingang in die Große Dame  
 
Links die Küche
Das Schlafzimmer in der Großen Dame  
   
 
Eine phantastische Blauspiegelgrotte

- ein biomorphes Formenspiel

 
Bizarre Säulenhalle  
Eine gestreifte Dame mit großen Oberbau und raffinierter Innenwelt  
Die beiden Labyrinthe

Eine wunderbare Fortsetzung dieses Themas ist die Grotte in den Herrenhäuser Gärten in Hannover. https://www.hannover.de/Herrenhausen/Herrenhäuser-Gärten/Grotte/Niki-de-Saint-Phalle


Bilder von der Niki de Saint-Phalle-Ausstellung im Sommer 2022 in Zürich:


Antwort einer Lehrerin auf eine Frage von Schülern in der Ausstellung, was da zu sehen sei: "Da durch und in den Bauch.."


Literatur:

Fischbeck, Regine Nanas, Monster, Traumpaläste - die Welt der Nikki de Saint Phalle, BRIGITTE 4/96, S. 80ff.
Nedo, Kito Die Provokateurin - Niki de Saint Phalle war eine Ausnahmekünstlerin. In Zürich wird sie jetzt endlich wieder neu entdeckt. SZ Nr. 211, 13.9.2022, S.10
Niki de Saint Phalle und Giulio Pietromarchi The Tarot Garden, Berne 1997
Weidemann, Christiane Niki de Saint-Phalle, Prestel, München 2014

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